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Grafik - Mitbestimmung in Europa

Basiswissen Mitbestimmung: 4. Mitbestimmung in Europa

Was ist eine europäische Aktiengesellschaft (SE)? Welche Rolle spielt Mitbestimmung in der SE? Was ist ein Europäischer Betriebsrat?

Seit 2004 gibt es die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea, kurz SE). Sie ist eine überstaatliche Rechtsform für Aktiengesellschaften in der EU und im Europäischen Wirtschaftsraum. Die SE unterliegt weitgehend einheitlichen Rechtsprinzipien. Jedes Unternehmen, das sich für die Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft entscheidet, muss seinem Namen das Kürzel „SE“ voran- oder nachstellen.

Europäische Aktiengesellschaften im Überblick (Statistiken)

Weitere Informationen zur Europäischen Aktiengesellschaft (www.mitbestimmung.de)

Mitbestimmung spielt eine wichtige Rolle bei der SE. Bevor eine SE gegründet und ins Handelsregister eingetragen werden kann, muss das Unternehmen mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern über Fragen der Arbeitnehmerbeteiligung verhandeln. Die Firmenleitung der beteiligten Gesellschaften muss die erforderlichen Schritte unternehmen, um die Verhandlungen über die künftige Arbeitnehmerbeteiligung in einem europäischen Vertretungsorgan (regelmäßig SE-Betriebsrat, siehe dazu 4.8 „Was ist ein SE-Betriebsrat (SEBR)?“ und im Verwaltungs- bzw. Aufsichtsrat der SE einzuleiten. Wenn die beiden Seiten sich nicht einigen können, sichert eine gesetzliche Auffanglösung die Rechte der Arbeitnehmer. (siehe dazu 4.3 „Kann man mit der SE aus der Mitbestimmung flüchten?).

Die Frage kann für mitbestimmte Unternehmen zunächst grundsätzlich mit einem Nein beantwortet werden. Das bestehende Mitbestimmungsniveau ist weitgehend geschützt: Wo es vorher Unternehmensmitbestimmung gab, bleibt dieses Recht auch für die SE bestehen.

In der Praxis ist es dann leider doch nicht so eindeutig. Die Richtlinie bietet ein Schlupfloch, um den gegenwärtigen Mitbestimmungsstatus „einzufrieren“. Einige Beispiele verdeutlichen, wie das funktioniert:

  • Ein nationales Unternehmen, dessen Belegschaft sich dem „magischen deutschen Schwellenwert“ von 500 Mitarbeitern nähert, wandelt sich vorher in eine SE um. Da es zum Zeitpunkt der SE Gründung (noch) keine Mitbestimmung gab, bleibt es auch in Zukunft dabei. Die SE unterliegt ab jetzt nicht mehr deutschem Mitbestimmungsrecht. Dies gilt in der Regel auch, wenn die Belegschaft später deutlich anwächst.
  • Eine ähnliche Situation liegt vor, wenn Unternehmen an die Schwelle von 2000 Mitarbeitern gelangen. Auch hier wird der bestehende Mitbestimmungsstatus mit der SE-Gründung für die Zukunft festgeschrieben. Das heißt in diesem Fall: Keine oder nur Drittelbeteiligung statt Parität im Aufsichtsrat und keine Sitze für externe Gewerkschafter.

Auch wenn diese Strategien kein Massenphänomen darstellen, nutzt in Deutschland eine zunehmende Zahl von Unternehmen diese Möglichkeit.

Weitere Informationen:

Publikation: Sebastian Sick - Der deutschen Mitbestimmung entzogen: Unternehmen mit ausländischer Rechtsform nehmen zu (pdf)

Der EBR ist eine europäische Arbeitnehmervertretung für grenzüberschreitend tätige Unternehmen in der EU bzw. im Europäischen Wirtschaftsraum. In ihm sind Beschäftigte aus den europäischen Ländern vertreten, in denen das Unternehmen tätig ist. Er dient dazu, Arbeitnehmer zur grenzübergreifenden Strategie des Unternehmens zu unterrichten und anzuhören.

Der EBR basiert auf einer EU-Richtlinie von 1994 (2009 überarbeitet) und wurde in Deutschland 1996 durch das Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG) in nationales Recht umgesetzt.

Der EBR hat das Recht auf Information und Anhörung durch die Unternehmensleitung. Seine Zuständigkeit beschränkt sich auf Entscheidungen und Entwicklungen, die grenzüberschreitende Auswirkungen auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer des Unternehmens bzw. der Unternehmensgruppe haben. Der EBR ist nicht mit einem Betriebsrat nach deutschem Recht zu vergleichen, der neben dem Informationsrecht auch über weitreichende Mitwirkungs- bzw. Mitbestimmungsrechte verfügt (siehe auch 2.2 „Was ist ein Betriebsrat?“ und 2.3 „Welche Rechte hat ein Betriebsrat?“).

Wichtigster Baustein für die Arbeit eines Euro-Betriebsrats ist die EBR-Vereinbarung, die zwischen der Arbeitnehmerseite und der zentralen Unternehmensleitung ausgehandelt wurde.

Ein Europäischer Betriebsrat (EBR) kann in einem gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen eingerichtet werden, wenn es in den EU-Mitgliedstaaten insgesamt mindestens 1.000 Arbeitnehmer beschäftigt und wenn in mindestens zwei Mitgliedstaaten jeweils mindestens 150 Arbeitnehmer tätig sind. Die EU-Richtlinie gilt auch für in EU-Ländern angesiedelte Niederlassungen internationaler Konzerne, die ihren Hauptsitz außerhalb der EU haben.

Derzeit gibt es mehr als 1.100 Europäische Betriebsräte (EBR), die (geschätzt) mehr als 18 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vertreten.

Weitere Informationen:

Website: The European Works Councils Database - Stats and Graphs (www.ewcdb.eu)

Wenn ein Unternehmen die Voraussetzungen für einen Europäischen Betriebsrat (EBR) erfüllt (siehe 4.5. „Wo kann ein EBR eingerichtet werden?“), können die Beschäftigen einen Euro-Betriebsrat fordern. Der Antrag auf EBR-Gründung muss von 100 Arbeitnehmerinnen und Arbeiternehmern (oder ihren Vertreterinnen und Vertretern) aus mindestens zwei Ländern unterzeichnet werden. Auch die Arbeitgeberseite kann die Initiative zur EBR-Gründung ergreifen, aber das kommt eher selten vor.

Die Grundlagen für die künftige EBR-Arbeit bestimmt die zentrale Unternehmensleitung mit dem besonderen Verhandlungsgremium der Arbeitnehmer (bVG). Kommt der Verhandlungsprozess innerhalb von drei Jahren nicht zum Abschluss oder nimmt die Unternehmensleitung innerhalb von sechs Monaten ab Antragstellung keine Verhandlung auf, greifen die Vorschriften über einen „Europäischen Betriebsrat kraft Gesetzes“.

In Deutschland werden die Mitglieder eines Euro-Betriebsrats „kraft Gesetzes“ vom Konzernbetriebsrat, vom Gesamtbetriebsrat oder auf einer gemeinsamen Sitzung der Betriebsräte gewählt, die alle Arbeitnehmer des Unternehmens in Deutschland vertreten.

Anders als die Europäischen Betriebsräte beruht der SE-Betriebsrat (SEBR) rechtlich auf dem SE-Beteiligungsgesetz (SEBG). Dieses regelt, wie Arbeitnehmer in Europäischen Aktiengesellschaften (SE) zu beteiligen sind. In ihren Rechten und Aufgaben unterscheiden sich SEBR und EBR jedoch nur in einigen Punkten. Auch über den SEBR verhandelt die Unternehmensleitung mit einer Arbeitnehmerdelegation aus den verschiedenen Ländern. Allerdings ist die Wahl der Vertreter für das Verhandlungskomitee beim SEBR komplizierter, für die deutsche Vertretung ist jedes dritte Mitglied ein Vertreter der Gewerkschaft.

Beim Recht auf Information hat der SEBR etwas weiterreichende Rechte als der EBR (unter anderem den Anspruch auf Vorlage von Geschäftsberichten, Tagesordnung des Aufsichtsrats und Unterlagen für die Hauptversammlung der Aktionäre). Falls die SE einen Aufsichtsrat mit Arbeitnehmerbeteiligung hat, hat der SEBR unter Umständen auch Rechte bezüglich der Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern.

 

Unterrichtung und Anhörung der Beschäftigten sind Grundrechte eines sozialen Europas, die unter anderem in der Grundrechte-Charta, Art. 27, verankert sind. Das gilt nicht für die Mitbestimmung. Mitbestimmung, Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind jedoch als Schutzziel im Bereich der Sozialpolitik im europäischen Primärrecht festgelegt (im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), Art. 151, Art. 153 Abs. 1 e, f). Nicht zuletzt ist Mitbestimmung ein Kernbestandteil im europäischen Gesellschaftsrecht (siehe 4.10 „Welche europäischen Mitbestimmungsgesetze gibt es?“).

Trotzdem steht die Unternehmensmitbestimmung in der EU immer wieder vor Herausforderungen. Denn die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) neigen dazu, starke Mitbestimmungsrechte als Hindernis für die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen und deren grenzüberschreitender Mobilität zu betrachten.

(Siehe auch 3.18 „Ist die deutsche Unternehmensmitbestimmung europarechtskonform?“ und 4.12 „Ist die deutsche Unternehmensmitbestimmung ein Sonderfall in Europa?“)

Weitere Informationen:

Publikation: Workers' Voice in European corporate governance - an invitation to open up new perspectives for participatory democracy (pdf)

Zu den Themen Mitbestimmung und Arbeitnehmerbeteiligung hat die EU zahlreiche Richtlinien erlassen, die jeweils in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Dazu gehören insbesondere:

- die Richtlinie über Europäische Betriebsräte (EBR-Richtlinie)

- die Richtlinie zur Mitbestimmung in der Europäischen Gesellschaft (SE)

- die Richtlinie zur Mitbestimmung in der Europäischen Genossenschaft (SCE)

- die Richtlinie zur grenzüberschreitenden Verschmelzung

- die Richtlinie zur Unterrichtung und Anhörung

- die Richtlinie über Massenentlassungen

- die Richtlinie zum Betriebsübergang

In Kürze wird zudem eine EU-Richtlinie zu grenzüberschreitender Umwandlung (Sitzverlegung), grenzüberschreitender Verschmelzung und grenzüberschreitender Spaltung verabschiedet, die dann in nationales Recht umzusetzen sein wird.

Zwar ist Mitbestimmung in vielen Ländern der Europäischen Union und des Europäischen Wirtschaftsraums verankert (siehe 4.13 „Wie sieht Unternehmensmitbestimmung in anderen europäischen Ländern aus?“). Aber weil diese Rechte sehr unterschiedlich ausgestaltet sind, ist es schwer, einheitliche Standards durchzusetzen. So wollen Länder mit weitreichenden Arbeitnehmerrechten keine Abstriche machen, Länder mit geringeren Schutzniveau sträuben sich dagegen, die Mitbestimmung auszubauen. Eine Einigung auf dem „kleinsten gemeinsamen Nenner“, also Standards auf Basis von Mindestregelungen, wäre unter anderem für Deutschland mit einem deutlichen Abbau von Arbeitnehmerrechten verbunden.

Mitbestimmung im Aufsichtsrat ist kein deutscher Sonderfall. Die meisten der 28 EU-Mitgliedstaaten plus Norwegen sehen eine Arbeitnehmervertretung in Leitungsorganen von Unternehmen vor (siehe auch 4.13 „Wie sieht Unternehmensmitbestimmung in anderen europäischen Ländern aus?“).

Wichtig: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die deutsche Unternehmensmitbestimmung als europarechtskonform eingestuft (siehe 3.18 „Ist die deutsche Unternehmensmitbestimmung europarechtskonform?

Mitbestimmung im Aufsichtsrat kennen neben Deutschland auch andere Länder in Europa. Die Mehrheit der 28 EU-Mitgliedstaaten plus Norwegen sieht eine Arbeitnehmervertretung in den Leitungsorganen der Unternehmen vor. In einigen Ländern beschränkt sie sich jedoch auf Unternehmen, die ganz oder teilweise in staatlichem Besitz sind oder privatisiert wurden.

  • In 14 Ländern gibt es Unternehmensmitbestimmung in staatlichen und privatwirtschaftlichen Unternehmen: Deutschland, Dänemark, Finnland, Frankreich, Kroatien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Slowakei, Slowenien, Schweden, Tschechien, Ungarn.
  • In fünf Ländern ist die Unternehmensmitbestimmung auf einige staatliche oder kommunale Betriebe beschränkt: Griechenland, Irland, Polen, Portugal, Spanien.
  • Zehn Staaten kennen keine gesetzlichen Vorschriften oder anderweitigen Regelungen für die Unternehmensmitbestimmung: Belgien, Bulgarien, Estland, Großbritannien, Italien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien, Zypern.

Grenzüberschreitend tätige Unternehmen können Mitbestimmung vermeiden, indem sie zum Beispiel die Unternehmenszentrale ins Ausland verlegen oder eine entsprechende Rechtsform wählen. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) können Unternehmen in ausländischer Rechtsform auch im Inland tätig sein, selbst dann, wenn der Schwerpunkt ihrer Geschäftstätigkeit in Deutschland liegt. Diese sogenannten Scheinauslandsgesellschaften dienen unter anderem dazu, die in Deutschland geltenden Schutzbestimmungen für inländische Arbeitnehmer zu unterlaufen. Aufgrund der ausländischen Rechtsform greifen die deutschen Mitbestimmungsgesetze dann nicht.

Neben ausländischen Rechtsformen kann auch die Europäische Aktiengesellschaft (SE) oder die grenzüberschreitende Verschmelzung genutzt werden, um Mitbestimmung zu vermeiden (siehe 4.3 „Kann man mit der SE aus der Mitbestimmung flüchten?“) .

Länder mit starker Mitbestimmung und ausgeprägten Arbeitnehmerrechten sind besonders erfolgreich. Sie schneiden unter anderem bei der Erwerbstätigenquote, der Einkommensgerechtigkeit, dem Armutsrisiko, der Quote der Ausbildungsabbrecher, der Hochschulbildung und den Investitionen in Forschung und Entwicklung besser ab als Länder, in denen die institutionellen Beteiligungsrechte schwach ausgeprägt sind.

Weitere Informationen:

Publikation: Mitbestimmung bringt Europa voran (pdf)

Länder mit starker Mitbestimmung und ausgeprägten Arbeitnehmerrechten sind besonders erfolgreich. Sie schneiden unter anderem bei der Erwerbstätigenquote, der Einkommensgerechtigkeit, dem Armutsrisiko, der Quote der Ausbildungsabbrecher, der Hochschulbildung und den Investitionen in Forschung und Entwicklung besser ab als Länder, in denen die institutionellen Beteiligungsrechte schwach ausgeprägt sind.

Weitere Informationen:

Publikation: Mitbestimmung verringert die Ungleichheit (pdf)

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