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Neue Studie zum „Goodwill“ in Bilanzen: Stark mitbestimmte Unternehmen gehen bei Mergers and Acquisitions weniger ins Risiko

07.09.2022

Zwischen 2006 und 2019 haben die knapp 170 wichtigsten börsennotierten deutschen Unternehmen fast ein Viertel ihrer Einnahmen, gut 400 Milliarden Euro, dafür aufgewendet, andere Unternehmen aufzukaufen. Der größere Teil der Zukäufe erfolgte im Ausland, was auf eine verstärkte Internationalisierung hindeutet. Zugleich wird bei Akquisitionen relativ selten diversifiziert, das heißt, meistens wurden Unternehmen aus der eigenen Branche übernommen. Unternehmen, die über eine starke Mitbestimmung der Beschäftigten verfügen, insbesondere im Aufsichtsrat, gehen bei Zukäufen im Mittel weniger stark ins Risiko als Firmen mit schwacher oder ganz ohne Mitbestimmung. Das ergibt eine neue Studie von Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Duisburg-Essen (UDE) und des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), die das Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat.

Die Wissenschaftler untersuchten in einem ersten Schritt alle paritätisch mitbestimmten Unternehmen, also mit zahlenmäßig gleich vielen Sitzen im Aufsichtsrat für Kapitalseite und Beschäftigte, die in den Leitindizes DAX, MDAX, SDAX und TecDAX notiert sind. Darüber hinaus alle paritätisch mitbestimmten börsennotierten Unternehmen. Erfasst sind 111 Unternehmen, für die zu sogenannten Mergers & Acquisitions (M&A) von 2006 bis 2019 jährliche Daten vorliegen, also zu Beteiligungen an oder Übernahmen von anderen Unternehmen. Nicht im Datensatz sind Unternehmen der Finanzbranche, weil sich die Forscher für strategische Zukäufe interessieren, nicht für reine Finanzbeteiligungen. In einem zweiten Schritt differenzierten sie zwischen Unternehmen mit starker und schwacher oder ganz ohne Mitbestimmung. Dazu wurde die Stichprobe um rund 60 nicht-mitbestimmte Unternehmen aus den vier Leitindizes ergänzt – mithin auf insgesamt rund 170 Firmen.    

Mergers & Acquisitions können die Wachstumsstrategie von Unternehmen voranbringen, zugleich besteht nach Analyse der Forscher aber die Gefahr, dass Käufer „zu teuer“ erwerben und sich mit Akquisitionen „überheben“. Einen Hinweis auf mögliche Risiken gibt das Verhältnis von so genanntem „Goodwill“ und Eigenkapital in den Bilanzen. Diese Quote ist in den rund 170 untersuchten Unternehmen der erweiterten Stichprobe zwischen 2006 und 2019 von durchschnittlich 34 auf 38 Prozent gestiegen. Nach Analyse der Ökonomen von UDE, WZB und I.M.U. zeigen sich dabei deutliche Unterschiede je nachdem, ob Unternehmen von den Beschäftigten mitbestimmt sind. Das „Goodwill“-zu-Eigenkapital-Verhältnis ist in stark mitbestimmten Unternehmen um bis zu 23 Prozentpunkte niedriger als in Unternehmen mit schwacher oder ganz ohne Arbeitnehmerbeteiligung.

Vereinfacht gesagt, entsteht ein „Goodwill“, wenn bei einer Übernahme oder einem Zusammenschluss von Unternehmen ein Kaufpreis gezahlt wird, der über den Bilanz- oder Buchwert des gekauften Unternehmens hinausgeht. Das ist bei M&A-Aktivitäten fast immer der Fall. Hintergrund: Der Käufer zahlt mit dem Aufschlag etwa für immaterielle Vermögenswerte wie Markennamen, einen attraktiven Kundenstamm oder besondere Kompetenzen. Der „Goodwill“ wird in der Bilanz des kaufenden Unternehmens als immaterieller Firmenwert ausgewiesen.

Besonders groß kann er ausfallen, wenn der Käufer sich von der Übernahme einen außerordentlichen Nutzen für die Zukunft verspricht. Der kann etwa in Synergien mit dem eigenen Geschäft liegen, einem dringend benötigten Know-How oder einem prognostizierten besonderen Wachstumspotenzial. „Chancen im Wettbewerb können so wahrgenommen werden, die ohne gezielte Unternehmenskäufe nicht realisiert werden könnten“, schreiben der UDE-Management- und Revisionsexperte Prof. Dr. Marc Eulerich und seine Co-Forscher. Allerdings besteht insbesondere bei „Zukunftswerten“ mit hohem Aufschlag natürlich auch ein Risiko, dass sich die Erwartungen nicht erfüllen und sich der Kaufpreis im Nachhinein als zu hoch herausstellt. Dann muss nach den international gültigen Bilanzierungsregeln im Zuge eines so genannten „Werthaltigkeitstests“ („Goodwill Impairment Test“) der „Goodwill“ teilweise oder im Extremfall sogar vollständig abgeschrieben werden, was in den Bilanzen Unternehmenswert und Gewinne schmälert und zu Kursverlusten an der Börse führen kann.

Die Wahrscheinlichkeit, dass solche Tests durchgeführt werden müssten, wächst unter anderem mit der Quote des „Goodwills“ im Verhältnis zum Eigenkapital. Im schlimmsten Fall könnte bei hohen Quoten und hohem Abschreibungsbedarf eine Art Spirale in Gang kommen mit dem Potenzial, einzelne Unternehmen zu destabilisieren, warnen die Ökonomen: „Sollte die Situation entstehen, dass Goodwill abgeschrieben werden muss, wird das Eigenkapital – und damit der finanzielle Puffer des Unternehmens – reduziert.“

Vor diesem Hintergrund stelle die Unternehmensmitbestimmung von Beschäftigten im Aufsichtsrat „aus ökonomischer Perspektive einen wesentlichen Stabilisierungsfaktor für Unternehmen“ dar, konstatieren die Wissenschaftler. Denn: „Unsere Studie zeigt, dass dort, wo die Mitbestimmung stark ist, der Goodwill im Verhältnis zum Eigenkapital geringer ist als in weniger stark mitbestimmten Unternehmen und demzufolge weniger Risiken aus solchen Deals bestehen.“ Die genauen Wirkungszusammenhänge müssten noch erforscht werden, schreiben die Forscher. Sie vermuten aber, dass die Arbeitnehmerbeteiligung im Aufsichtsrat – in dem solche elementaren strategischen Entscheidungen getroffen werden – ein wichtiger Faktor dafür ist, dass das Aufsichtsgremium vom Management geplante Deals sorgfältig begleitet.

Die Ergebnisse im Detail:

Zahl der Akquisitionen nach 2009 rückläufig, viele Einkäufe im Ausland

Bei den im ersten Schritt untersuchten 111 paritätisch mitbestimmten Unternehmen zählt das Wissenschaftler-Team in den 14 analysierten Jahren insgesamt 1041 Akquisitionen. Schaut man auf die Zahl der Deals pro Jahr, lag der Höhepunkt vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. So wurden 2007 noch 103 und 2008 sogar 118 Aufkäufe oder Beteiligungen getätigt. Nach dem Einbruch durch die Krise auf 52 Akquisitionen 2010 stieg die Zahl zwar wieder etwas an, blieb aber in allen Folgejahren deutlich unter 80. Für das Jahr 2019 zählen die Forscher 57 M&As (siehe auch Abbildung 1 in der Studie; Link unten).

Ein Großteil der Unternehmen beschränkte sich auf einzelne Zukäufe. Auf der anderen Seite entfielen auf zehn Unternehmen mit sehr ausgeprägten M&A-Aktivitäten rund ein Drittel aller Deals. Bei der großen Mehrheit aller Akquisitionen, 889 von 1041, übernahmen die Käufer mindestens 50 Prozent am Zielunternehmen, die Käufe waren laut den Forschern also „strategischer Natur“. In 666 Fällen übernahmen die Erwerber sogar komplett.     
 
Bei ihren Aufkäufen agierten relativ viele Unternehmen nach der Analyse international: Fast 50 Prozent der 111 Firmen tätigten mindestens jede zweite ihrer Akquisitionen jenseits der deutschen Grenzen. Weitere 16 Prozent kauften sogar ausschließlich ausländische Unternehmen. Dagegen erwarben rund 34 Prozent überwiegend oder ausschließlich deutsche Unternehmen. Stark auf Diversifizierung zielten 41 Prozent der Käufer, indem sie überwiegend oder sogar ausschließlich außerhalb der eigenen Branche einkauften, während die Mehrheit der untersuchten Unternehmen bei ihren Deals vollständig oder zum größten Teil innerhalb des eigenen Wirtschaftszweigs blieb.                        

„Goodwill“ wächst schneller als Eigenkapital

Im Durchschnitt haben sich die knapp 170 Unternehmen des erweiterten Datensatzes von 2006 bis 2019 recht kräftig entwickelt. Die addierte Bilanzsumme stieg um 82 Prozent auf rund 3,176 Billionen Euro. Das Eigenkapital legte sogar um 115 Prozent auf rund 964 Milliarden Euro 2019 zu. Noch stärker wuchs allerdings der „Goodwill“ in den Bilanzen des Samples: um 139 Prozent auf zuletzt rund 369 Milliarden Euro. Dementsprechend ging auch die Quote des „Goodwills“ im Verhältnis zum Eigenkapital hoch: von 34 Prozent 2006 auf 38 Prozent 2019.  

Stärkere Mitbestimmung, niedrigere „Goodwill“-Quote

Im abschließenden Schritt untersuchen die Forscher das Verhältnis zwischen „Goodwill“ und Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ob die Verankerung der Mitbestimmung in den untersuchten Unternehmen über- oder unterdurchschnittlich stark ist, bestimmten die Forscher über den am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) entwickelten Mitbestimmungsindex (MB-ix). Er reicht von 0 bis 100 Punkte und verzeichnet unter anderem für jedes Unternehmen, wie viele Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat und dessen Ausschüssen sitzen, wie stark die formellen Einflussmöglichkeiten des Kontrollorgans sind oder ob es einen europäischen Betriebsrat gibt. Als stark mitbestimmt werden in der Untersuchung Unternehmen bezeichnet, wenn sie im Vergleich zur Gesamtgruppe eine überdurchschnittlich stark verankerte Mitbestimmung haben und als schwach mitbestimmt, wenn sie unterdurchschnittlich ist. Zudem gibt es im Sample Unternehmen ganz ohne Mitbestimmung.

Die quantitative Analyse der Forscher ergibt einen klaren negativen und linearen Zusammenhang zwischen Mitbestimmung und Höhe des „Goodwills“ in den Bilanzen: „Sie zeigt, dass in Unternehmen, in denen die Mitbestimmung stärker verankert ist, das Verhältnis von Goodwill zu Eigenkapital signifikant niedriger ist im Vergleich zu weniger stark mitbestimmten Unternehmen“, konstatieren die Forscher. Die Differenz kann bis zu 23 Prozentpunkte betragen. So viel niedriger ist die „Goodwill“-zu-Eigenkapital-Quote in Unternehmen mit maximalem MB-ix gegenüber Unternehmen ohne Mitbestimmung. Konkret lag das Goodwill-zu-Eigenkapital-Verhältnis in einem typischen Unternehmen mit dem MB-ix-Wert von 0 bei 59 Prozent, in einem typischen Unternehmen mit dem MB-ix-Wert von 100 bei 36 Prozent.        

Weitere Informationen:

Marc Eulerich, Benjamin Fligge, Robert Scholz, Sigurt Vitols, Sebastian Campagna: Unternehmenskäufe und -übernahmen in Deutschland. Entwicklung, Goodwill und Mitbestimmung. Mitbestimmungsreport Nr. 74, Juli 2022.

Kurze Video-Interviews mit den Forschern Prof. Dr. Marc Eulerich (Universität Duisburg-Essen) und Dr. Robert Scholz (WZB) zur Studie.

Kontakt:

Dr. Sebastian Campagna
I.M.U., Wirtschaftsexperte

Rainer Jung
Leiter Pressestelle

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